Will man sich hineinversetzen in jene Welt der Menschen zu Jesu Zeiten oder auch später im Mittelalter bis hin zur Neuzeit, so muß man ihnen wohl zubilligen immer und überall sehr viel deutlicher den Tod vor Augen gehabt zu haben als wir es heute erfahren. Es gab nicht die vielen Annehmlichkeiten der heutigen Zeit, die uns all dies vergessen machen. Wir leben heute in einer Welt in der der Tod nicht mehr dazugehört. Er ist nicht mehr allgegenwärtig wie zu jenen Tagen, und so leben wir heute weithin sozusagen todesvergessen bis hin zu eben jenem Moment, da er uns oder unsere Anverwandten letztlich ereilt. Dies ist uns aber nur möglich im trügerischen Bewußtsein, ihn immer wieder austricksen, wegschieben zu können auf ein Später – nur nicht jetzt.
Nicht so zu Jesu Tagen, nicht so über Jahrtausende vor der heutigen Moderne. Im natürlichen Dasein des Menschen ist und war er immer mit dabei. Muß man daher nicht auch annehmen, daß gerade auch aus diesem Bewußtsein heraus, jenen damaligen Menschen, ein Leben nach dem Tode viel wichtiger sein mußte, als es dies uns heute ist. Wer mag schon gern mit diesem Schatten, der immer an einem klebt, leben. Vermutlich würden auch wir schlagartig wieder religiöse Menschen werden, würde uns die Sicherheit der Moderne morgen abhanden kommen. So aber brauchen wir Gott nicht mehr, wir haben ja einen Ersatz gefunden im modernen Leben und seinen Verheißungen. Hier wird Gott letztlich überflüssig, wird zur netten Staffage, die uns als heile Welt erhalten bleiben soll, um nicht sehen, hinsehen zu müssen, daß wir eigentlich längst mit Ihm gebrochen haben, um uns nicht unserer eigenen Gottlosigkeit gewahr zu werden.
Man könnte einwenden, daß der moderne Mensch eben andere Götter anbetet, sei es die Technik, den Fortschrittsglauben. Aber kann man dies wirklich gleichsetzen? Wohl eher nicht. Wissenschaft und Technik und hier heraus der ständig weiter entfachte Fortschrittsglaube sind so wohl eher eine Selbstvergötterung, ein störrisches Nein zur religiösen Haltung der Vergangenheit. Mit gelebtem Glauben, vor allem aber mit empfundenen Glauben hat dies wohl wenig zu tun.
Nun aber zum eigentlichen Thema, dem letzten Abendmahl. Vieles von dem was uns die Evangelien überliefern, wird heute als fragwürdig empfunden, was ist wirklich geschehen, was ist hinzugefügt worden? Das letzte Abendmahl aber nimmt in den Evangelien einen so zentralen Platz ein, daß wohl kaum davon ausgegangen werden kann, dies sei nie Geschehen, ja reine Erfindung. Beweisen läßt sich hier wie auch anderswo natürlich vieles davon nicht, und so kommt es wohl eher darauf an ein verständiges Herz zu haben, als einen blitzgescheiten Geist, um das Berichtete zuzulassen, an sich heran zu lassen, mit allen Folgen die dies für das eigenen Leben natürlich auch haben kann.
Das letzte Abendmahl, ist wohl der zentrale Akt im berichteten Geschehen der Evangelien, wichtiger womöglich gar in seiner potentiellen Unverstandenheit für die heutige moderne Welt, als das Geschehen der Auferstehung, welchem ja aller Ortens größte Bedeutung zugemessen wird. Wichtiger vielleicht eben auch deshalb, weil uns über die Jahrhunderte einfach der Schlüssel abhanden gekommen ist, aus diesen Schilderungen eine Öffnung hin zum Glauben zu erfahren. Der Weg dorthin geht meines Erachtens nur durch das empathische Hineinversenken in jene Gegenwart, von der wir so wenig letztlich, und doch auch unendlich vieles haben erfahren dürfen. Hier bedarf es keiner Analytik noch Logik, die uns das Wesentliche wohl nur verbergen würden. Die Erfahrung jener Zeitzeugen, die zugegen waren, kann bedingt womöglich eben nur dann zu unserer eigenen werden, wenn wir uns bedingungslos einlassen können ins Erfühlen jener Gegenwart dieses sonderbaren Momentes, im Hineinversetzen in jene Situation des letzten Abendmahles, was ich im Folgenden ein wenig zu erörtern suche.
Die Worte Jesu richteten sich zunächst an seine Jünger, nicht an uns Nachkommende. Sie waren es, die er ansprach und denen er Auftrag gab. Dies sei zunächst vorweggenommen, denn es scheint mir ein großes Übel der heutigen Zeit, die Dinge immer sofort universal zu deuten. Mag Christus auch letztlich in der Schlußfolgerung alles Gesagten, als Erlöser der Menschheit verstanden werden, Er selbst in jener Stunde des letzten Abendmahles, richtete seine Worte an seine Jünger, auch wenn er dort vom neuen Bund sprach, der alle mit einbeziehen solle. Aber hören wir ihn selbst, versuchen wir uns hinein zu versetzen in die Atmosphäre jenes letzten Abendmahls.
Man trifft sich, wie auch Tage zuvor schon, zum gemeinsamen Abendessen, man spricht über Ereignisse des Tages, ja vergangener, aber auch die zu erwartenden, kommender Tage. Es gibt Unstimmigkeiten unter den Jüngern, wie dies oder jenes zu bewerten sei. All die üblichen Verhaltensmuster, wie man sie findet auch bei uns in unruhigen Tagen, gespeist von einem zumeist unterschwelligen Bedrohungsgefühl. Er brachte etwas ganz Neues, begehrte auf und widersprach, machte Hohles, Sinnentleertes offenbar, kurzum er machte Mut herauszusteigen aus der Gefangenschaft mißverständlicher Gläubigkeit. Überflüssig zu erwähnen, daß er auch Ablehnung erfahren sollte, denn es gab auch viele, die infolge seines Wirkens nun etwas zu verlieren hatten. Gründe genug also für die Jünger, sich auch latent bedroht zu fühlen durch das Geschehen. Und doch steht Jesus mitten unter ihnen als ihr wahrer König. Er weicht nicht von der Stelle, warum auch. Man setzt sich zu Tische oder legt sich. Die Speisen sind aufgetragen und Jesus als ihr Meister bricht das Brot, um es zu verteilen, wie er es sonst auch tut. Doch diesmal spricht er diese, seine unauslöschlichen Worte: “Nehmt und esset alle davon, dies ist mein Leib, der für euch hingegeben wird zur Vergebung der Sünden.” Allein dies schon wird vielen der Anwesenden einen Kloß im Halse bescheret haben, will man doch damit nichts zu tun haben. Zögerlich nimmt man das gebrochene Stück Brot, reißt sich wiederum ein Stück ab, gibt den Rest weiter. Man schaut verwundert in die Gesichter der anderen, die eigene Ratlosigkeit wird sich dort widergespiegelt haben. Aber noch ehe sich Widerspruch im Raume finden kann, rundet Er die Sache ab, setzt abermals an, nimmt den Kelch mit Wein, vermutlich gefüllt mit Rotwein und spricht: “Nehmet und trinket alle daraus. Dies ist mein Blut das vergossen wird für euch und für alle, zur Vergebung der Sünden. Tut dies zu meinem Gedächtnis.” Spätestens jetzt ist die Stimmung todernst. Es herrscht betretene Stille im Raume. Der Auftrag ist ausgesprochen, der Äußere wie der Innere, zu seinem Gedächtnis/Gedenken sollen seine Jünger diese heilige Handlung wiederholen, was nicht das Schlimmste wäre, aber die Verknüpfung mit der Heilsnotwendigkeit des kommenden Geschehens, wie er sie ausspricht, fordert nichts anderes als, “Nimm deine Schuld an, Hier und Jetzt“.
Wer kann dies wollen, um den Preis seines Todes? Natürlich Niemand. Das Schuldig-Sein im Allgemeinen, ja, meinetwegen ich nehme es an, weiß doch ein jeder von uns, um die eigenen Schwächen und Verfehlungen, aber doch nicht diese generalisierte Schuld, doch nicht um diesen fürchterlichen Preis, den geliebten Meister oder gar Sohn Gottes zu opfern, denn um nichts geringeres geht es hier ja nun, im eigentlichen Sinne. Es muß dies ein absolut fürchterlicher Moment für alle Beteiligten gewesen sein, und doch, es traut sich niemand das Aufgetragene zu verweigern, zu groß ist die Ehrfurcht, zu gewaltig seine Worte.
Seelische Vergewaltigung würde man heute wohl sagen, doch was verstehen wir heute schon noch von dem was damals war. Nun war es jedenfalls heraus, den Umsturz den sich ein jeder der Beteiligten herbeisehnte, das Himmelreich auf Erden, es rückte alles in ungreifbare Ferne. Man hatte auf Seine Kraft, Seine Macht vertraut und wollte mit bei den Siegern sein, wenn es soweit war. Doch nun der Schock. Erste Treueschwüre folgen. Wir schaffen das schon, es ist ja noch nichts entschieden. Viele haben womöglich ihre ganze Existenz darauf gebaut später entlohnt zu werden, aber doch nicht erst im Himmel. Es war noch zu früh, viel zu früh, um es wirklich zu verstehen. Dies konnte erst später geschehen. Jetzt galt es erstmal das Schlimmste wenn möglich zu verhindern. Und wie zum Abschluß dieses Schwebezustandes kommt es nochmals zu einer Erdung des Angesprochenen. Jesus vollzieht es geradezu. Judas mag zuvor nur in Versuchung gekommen sein, einen Verrat zu begehen, wie viele von uns es in anderer oder ähnlicher Weise im Kleinen oder aber auch im Großen sicher auch schon zigfach in ihrem Leben erfahren mußten. Jesus wußte sicher um die Unsicherheiten in der Runde, hat sie gespürt und hat letztlich hier das Böse herausgefordert, sich zu erkennen zu geben, die Sache zu Ende zu bringen. Es bleibt zu vermuten, daß Judas in seinem Tun, nun zusätzlich aufgefordert von Jesus, auch nur dem freien Lauf ließ, was eh schon als Versuchung in ihm war. Jesus hat ihn dazu ermutigt, womöglich gar gegen seine innere Hemmung, die ohne Aufforderung vielleicht sogar obsiegt hätte. Judas hat also letztlich hier seine ihm zugewiesene Rolle angenommen und sicher auch sofort aufs Bitterste bereut. Ich glaube indes nicht, daß er im klassischen Sinne als Schuldiger zu verstehen ist, da die ganze Situation eh schon höchst surreale Züge angenommen hatte. Wenn überhaupt, so ist ihm wohl lediglich die Rolle des Verräters zugewiesen worden, in der er stellvertretend für die Gemeinschaft der Jünger und im weiteren Sinne gar für das Volk Gottes, daß seinen Messias nicht annehmen will, diesen Verrat zu begehen hat. Für ihn ist es jedenfalls nicht bei der Zumutung des letzten Abendmahls geblieben. Es sollte besser offen bleiben, wie seine Rolle zu bewerten ist, sucht doch der Mensch nur allzugern einen Sündenbock. Indes ist aber doch die Runde der Jünger wie ein Mikrokosmos zu sehen, in dem sich Teils nichts anderes vollzog als im entsprechenden Makrokosmos der jüdischen Welt, in die er als Messias kam.
Doch bleiben wir beim Abendmahl. Wer von uns – frage ich – kann wirklich, wenn er getreulich dem Auftrage zu Seinem Gedächtnis das Brot zu brechen und den Wein zu trinken, im Beisein hunderter Anderer, dies im Bewußtsein jener anzunehmenden Schuld tun, Ja dazu sagen, daß Sein Leib für mich gebrochen werden soll, daß Sein Blut um meinetwillen vergossen werden mußte. Es ist dies schließlich nichts anderes als die eigentliche, bleischwere, allerbitterste Beitrittserklärung zum Christentum. Hierin liegt damit auch die womöglich wahre Taufe, die wahre Reinwaschung, nämlich die eigene unauflösliche Verbundenheit, ob der eigenen Unvollkommenheit, Urschuld oder Sündhaftigkeit, die auf diese Weise vor Ihm und aller Öffentlichkeit im Rahmen dieser heiligen Handlung anzunehmen und zu bekennen ist. Wer hieran vorbeikommen will, erfährt womöglich nicht die Tiefe seines eigenen Daseins und muß Notgedrungen oberflächlich bleiben. Es ist indes eine süße Schuld, die wir hier anzunehmen aufgefordert werden, und sie ist im selben Moment schon durch seine aufopfernde grenzenlose Liebe zu uns vergeben und getilgt. Es kostet uns also quasi nichts – um in den üblichen Kategorien zu sprechen – außer das wirkliche Eingeständnis der eigenen Fehlbarkeit, hier erdend seinen eigenen Platz einnehmend, heilsam für des Menschen Hybris. Und wo sonst als vor Gott selbst, kann der Mensch als Geschöpf unbeschadet schwach sein, vergibt er sich nichts, kann somit sein, wie er ist, wer er ist? Lassen wir uns also berühren von jener Stimmung der damaligen Stunden, die man mit etwas Glück aus den überlieferten Worten erfühlen kann. Tauchen wir ein in jenes Mysterium der Eucharistie, so wird uns auch seine heilende Wirkung zuteil, denn wenn es gelingt, das Geschehene wieder lebendig werden zu lassen, ihm in mir erneut Gegenwart zu geben, so verändert es schon mein Leben und ich bleibe nicht unberührt davon. Ein weiteres wird es dann sein, einmal selbst diesen heiligen Akt unter entsprechend würdigen Bedingungen in aller Tiefe zu vollziehen, abseits ausgetretener kirchlicher Pfade. Würdig in einer Weise, daß das Geschehene erneut Gegenwärtig werden kann. Daneben verblaßt dann auch zunächst die Frage der Fleischwerdung in Brot und Wein, wie auch die Frage der Auferstehung. All dies aber ist implizit schon mit enthalten, kann ich doch schließlich nicht wirklich berührt sein von einem Gott, der nicht ein Dasein auch außerhalb unserer konkreten Welt hat. Und wie, wenn er diesen Ort, den wir Himmel nennen, diese gesonderte Sphäre des Daseins bewohnt, wie soll er, der außerhalb alles Zeitlichen ist, denn heute sein und morgen nicht. Selbst wenn Gott nur durch Jesus zu uns gesprochen hat, so Ist er doch. Wir sehen ihn doch in allem was kreucht und fleucht und diese Emanation ist sicher nur ein kleiner Teil des Großen und Ganzen.
Wie oben schon gesagt, erscheint mir das empathische Eintauchen in jene Geschehnisse des letzten Abendmahls als eine Voraussetzung zu einem tieferen Verständnis auch der Heilswirkung, die das Christentum unter den Menschen bewirken kann, im Übrigen durchaus auch jenseits von bloßer gegenseitiger Aufforderung zu tätiger Nächstenliebe und deren unsäglichem bravem Nachvollzug, wie Kinder es tun, wenn sie sich die Liebe ihrer Eltern verdienen wollen. Denn das Christentum ist sicher nicht angetreten ein Sklaventum des Gutseins zu bringen, sondern innerliche Wahrhaftigkeit als unabdingbare Voraussetzung allen Gutseins, ungestört vom Mißbrauch durch den Menschen. Abgesehen von all diesen Zusammenhängen von Abendmahl und Kreuzestod, lag und liegt alsdann wohl erst in der nachfolgenden Auferstehung die eigentliche Befreiung, sowohl für die damalige Gemeinschaft der Jünger, als auch für die Menschheit im Ganzen, wenn man den universalen Anspruch zuläßt. Befreiung nach all diesen schweren düsteren Tagen, gleichsam wie in einem Nachvollzug jener Phase von der Dunkelheit zum Licht, Befreiung im Hinblick auf die Überwindung des Todes, selbst von aller irdischen Schwere, durchaus auch als Entrücktheit im übertragenen Sinne. Die Christenheit scheint mir dort aber lange noch nicht angekommen zu sein. Sie ist noch zutiefst befangen von der Trauer um den Verlust des Heillands in ihrer Mitte, und weiß nicht mal um ihr Verharren, denn sie hat vor langer langer Zeit schon den Schlüssel verloren zu ihrem wahren Herzen und kann so ihre Tränen nicht weinen, den Verlust nicht annehmen, und so ihren Blick nicht abwenden von jenen Ereignissen. Sie kann so nicht wahrhaft zum österlichen Erleben kommen. Es bleibt somit bei der frommen Botschaft, doch wäre es womöglich längst an der Zeit gewesen in diese neue Epoche einzutreten. Der Schlüssel aber liegt meines Erachtens im wahren Brotbrechen, im wahren tief empfundenen Leeren seines Kelches, so schmerzhaft das auch sein mag. Nur hier heraus werden wir die Betrübnis jener Tage zwischen Abendmahl und Auferstehung wahrhaft überwinden können, denn sie sind ja um unseres Heiles willen geschehen. Nur dann werden wir diesen Ereignissen den angemessenen Platz zuweisen können und nicht mehr mit gesenktem Blick auf dem Tod des Heilands erstarrt und verhaftet sein.
Davon aber vielleicht ein anderes mal.